Dekanat Gießen

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          Gedanken zur Woche

          Wo ist der Himmel?

          Volker RumpfDer Himmel über Gießen

          Auch am Krankenbett ist die Welt nicht zu Ende. Wer den Kopf hebt, kann den Himmel sehen. Und selbst, wenn sich Wolken in de Frühlingshimmel schieben, kann der Blick in den Himmel ein Anfang sein, findet Pfarrerin Ingrid Volkhardt-Sandori aus Sellnrod.

          privatPfarrerin Ingrid Volkhardt-Sandori

          Manchmal in einem Krankenzimmer. Draußen fährt vierspurig der Verkehr vorbei. Hier drin ist es fast ganz still, nur die Geräte summen leise. Sie sitzt neben dem Bett und bringt kein Wort heraus. Bevor er das Bewusstsein verlor, hatte er sie ja schon nicht mehr erkannt. Aber sie kann nicht anders, sie wird in der Gestalt auf dem Bett immer ihren vertrauten Mann sehen, mit dem sie ihr ganzes erwachsenes Leben geteilt hat.

          "Wer am Ende ist, kann von vorn anfangen, denn das Ende ist der Anfang von der anderen Seite." Wo hat sie das nur gelesen? Und wer hat das gesagt? Sie schlägt die Tageszeitung auf, aus der sie ihrem Mann jeden Tag vorliest. Tatsächlich, da steht es, sie liest halblaut: „Wer am Ende ist, kann von vorn anfangen, denn das Ende ist ja der Anfang - von der anderen Seite aus betrachtet.“ Ach so, von Karl Valentin stammt der Spruch. Sie kann nicht anders, sie muss den Spruch in Gedanken hin und her wenden, ihr Blick geht dabei aus dem Fenster und wieder zurück zu ihrem Mann. „Der Anfang, von der anderen Seite aus betrachtet“, denkt sie; es ist kein vollständiger Gedanke, nur ein Anfang. Anfang wovon?

          Während die Krankenschwester ihren Mann versorgt, unternimmt sie einen Spaziergang durch den Park. Ohne ein bestimmtes Ziel verlässt sie das Krankenhaus. Die Kirchenglocken läuten. „Vater unser im Himmel“, denkt sie, die vertrauten Worte. Ihr Schritt wird leicht, die Schuhe streifen die Erde, die schon nach Frühling aussieht. Ach, und da sind die ersten Gänseblümchen, wie alte Bekannte, sie schauen zu ihr hinauf mit den kleinen Blumengesichtern.

          Dann denkt sie überhaupt nichts mehr, nicht Ende, nicht Anfang, nur noch. „Vater unser im Himmel“.

          Sie sitzt wieder im Krankenzimmer. Wie entrückt, fern aller Zeit. Sie ist wieder das junge Mädchen, in das sich ihr Mann verliebt hat. Sie nimmt seine Hand, sie tanzt wieder ihren ersten Tanz. Alles tanzt, die Welt tanzt um sie. Ob das schon der Anfang von der anderen Seite ist?

          „Vater unser im Himmel...“, sagt sie laut und wundert sich darüber. Und weiß wieder, dass die Welt an diesem Krankenbett doch nicht zu Ende ist, denn wenn sie nur ein bisschen den Kopf hebt, kann sie von ihrem Platz aus schon den Himmel sehen, und es gefällt ihr, was sie sieht, sogar heute, wo der Himmel doch grau herein scheint. Sie denkt sich ja die Blumengesichter dazu, wie sie sich erwartungsvoll nach oben richten.
          „Das wollen wir doch mal sehen“, sagt sie und öffnet das Fenster.

          Pfarrerin Ingrid Volkhardt-Sandori (Sellnrod)

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